Dezember 2013
Von Waldgeistern und Baumnymphen – Märchen für die Seele
Beitrag von Frauke Krull, Heilpraktikerin

Der Baum

Wir schauen zu ihnen auf und richten uns an ihnen auf.

Sie spielen in den Märchen und Sagen der ganzen Welt eine große Rolle.

Der Baum ist das Symbol für die Kreisläufe des Lebens: Geburt, Wachstum und Tod werden durch seine jahreszeitlichen Veränderungen vermittelt.

Er zeigt die Wiederkehr des Lebens nach einer langen Winterzeit.

Bäume spenden Schatten, Früchte, Sauerstoff, liefern Baumaterial, heizen Herd und Hütte und sie waren den Göttern geweiht.

Unter heiligen Bäumen wurde Gericht gehalten.

Der Brauch, zur Geburt eines Kindes einen Baum zu pflanzen ist uralt, unter Maibäumen wurde getanzt und auf dem Friedhof findet man Trauerweide und Zypresse als Ausdruck der Trauer.

Ob Yggdrasil (der Weltenbaum), der Apfelbaum im Paradies oder der Bodhi-Baum unter dem Buddha erleuchtet wurde – Bäume werden als spirituelle Mittler in göttliche Sphären verstanden.

Die Weltenesche der Germanen schützt zwischen ihren Wurzeln den Lebensquell. Hier besprengen die drei Nornen (Schicksalsgöttinnen: Urd, Vernandi und Skuld) seine Wurzeln mit dem Lebenswasser.

Der Baum symbolisiert die mythische Einheit von Himmel, Erde und Unterwelt, sowie auch von Vergangenem, Jetzigem und Zukünftigem: also ewiges Wachsen, Werden und Vergehen.

Bei den alten Griechen gab es in der Familie der Nymphen eine eigene Art von Baumgeistern: die Dryaden. Sie waren mit ihrem jeweiligen Baum verbunden und erfüllten den Menschen Wünsche, wenn sie den Baum nicht abholzten.

Sie beschenkten den Menschen nach ihrem Charakter und konnten sein Schicksal wenden. Bäumen wurde eine Seele zugeschrieben, mit der sich der Mensch verbinden konnte und die ihn an seiner numinosen Kraft Anteil nehmen ließ. Sagen und Märchen erzählen von Schätzen, die der Held unter einem Baum findet und damit seine Not lindern kann. In diesem Fall beginnt sein sozialer Aufstieg (die goldene Gans, Aschenputtel).

Auch Schamanen erklimmen den Weltenbaum, im in die Oberwelt der göttlichen Mächte zu kommen.

Der Wald

Viele Bäume sind ein Wald – unser ursprünglicher Lebensraum, bevor der Mensch in die Natur eingegriffen hatte.

Mit dem Roden des Waldes und dem Anlegen von Feldern verließen die Menschen den Wald. Der Waldrand wurde nun zur Projektionsfläche ihrer Wünsche, Ängste und Visionen. Es entstanden heilige Haine, in denen die Menschen mit den Waldgottheiten kommunizieren konnten.

Das Märchen – es war einmal…

Im Wort Märchen steckt das Wort Mär – eine große, wichtige Kunde. Es erinnert uns an unser urtümliches inneres Wahrnehmungsvermögen, von dem wir uns in unserer Wach- und Lebenswelt abgeschnitten fühlen.

Ausgangssituation vieler Märchen ist ein Mangel; eine Not, die als Motivation dient, in den Wald zu gehen (Hänsel und Gretel, Bremer Stadtmusikanten, Schneewittchen). Die Einsicht, etwas nicht mehr ertragen zu können (oder zu wollen), dass nichts mehr geht, lässt den Helden zurück in den Wald gehen.

Im Wald ist es dunkel und gefährlich, hier herrschen noch die Naturgesetze. Der Leidensdruck fordert schmerzliche Loslösungen von bisher Gewohntem.

Man muss der Zivilisation den Rücken kehren, eine (Wald-)Grenze überschreiten und sich auf Unbekanntes und Ursprüngliches einlassen.

Der tiefe Wald ist auch ein Bild für die Seele und das Unbewusste. Er konfrontiert mit der natürlichen Seite des Lebens, den Naturgesetzen, die in der Zivilisation vernachlässigt wurden.

Der Wald verlangt eine Korrektur der bisherigen Lebenseinstellung und zwingt zur Konzentration auf das Wesentliche.

Es erfolgt eine Wandlung, manchmal auch eine Initiation (Kind – Erwachsener: bei Schneewittchen, die Gänsehirtin am Brunnen).

Weltweit erfolgten Initiationsriten, bei denen Jugendliche für eine gewisse Zeit in den Wald geschickt wurden, um als Erwachsene zurückzukehren.

Der Wald kann ein Ort der Reifung, Wandlung und Heilung auch für Erwachsene sein. Er kann zu einem interaktiven Spiegel; oft zu einem erbarmungslosen Spiegel für unser Menschsein, unsere Strukturen und für unsere Lebensthemen werden (von A.H. Kreszmeier, in e&l 6/2004).

Prüfungen, körperliche Schmerzen, Einsamkeit und Angst stellen ein Sterben von unbrauchbar gewordenen Anteilen des Egos dar.

Ein neuer Mensch wird geboren.

Der Märchenheld begibt sich in die Einsamkeit und Stille des Waldes, setzt sich einer höheren Macht aus, erlebt die Angst verlorenzugehen, steckenzubleiben, in die Irre zu gehen und nicht mehr herauszufinden.

Das Märchen schickt ihm Helfergestalten, die in dem Wald wohnen.

Einen zentralen Platz nimmt hier die Waldfrau (Gänsehirtin am Brunnen, Waldminchen, die Alte im Wald) oder der Waldvater (Das Waldhaus, der mildherzige Holzhacker) ein.

Sie wenden das Schicksal, verfügen über heilerische Fähigkeiten und gehören zum Kreis der Göttin Holda (Frau Holle) bzw. zum Gott Pan oder Cernunnos. Waldfrauen gehören zu den Vegetationsgöttinen, die verirrte Menschen auf den rechten Weg bringen und Auswege zeigen. Sie können gütig sein und Laub verschenken, das sich in Gold verwandelt.

Das siebenbürgische Märchen »Das Rosenmädchen« erzählt von einem Waisenknaben, der bei einer Waldfrau aufwächst und weist darauf hin, dass Menschen zweierlei Eltern haben: leibliche und geistige. Ein Trost für alle, die unter kinderunwürdigen Umständen groß werden müssen. Es eröffnet die Freiheit mehr werden zu dürfen, als es die biologischen Eltern ermöglichen.

Der Weg in den Wald hilft dabei, Kindheitsmuster abzulegen.

Waldfrauen vertreten die ordnende Kraft im Wald und achten auf die Einhaltung ihrer Gesetze.

Sie helfen den Menschen, sich wieder an das Entwicklungsgesetz des Lebens anzuschließen, beheben Stagnation und Erstarrung.

Das ungeborgene Kind erfährt sich getragen von einer strengen, aber sorgsamen Naturmutter, die nachwachsen lässt, was in seinem Wachstum gestört war.

Die Waldfrau ist die Heilpädagogin der Natur. Ohne sie führte der Weg in eine Sackgasse, fixiert auf die Sehnsucht nach vergangenem Kinderglück.

Die Helden wachsen an ihrem Leid oder an ihrer Leistung (Gretel) über sich hinaus, entwickeln wertvolle Eigenschaften, die sie in Form von Gold oder Früchten einsammeln können.

Diese Früchte stillen ihren geistigen oder seelischen Hunger.

Wer aus dem Wald herausfindet, hat seine Not angenommen und sich mit ihr ausgesöhnt. Die Alte im Wald lädt jedem den Buckel voll mit dem Bündel, das sie als das »Seine« bezeichnet.

Im Dunkel des Waldes schärft sich der Blick auf das Wesentliche. Verborgenes nimmt Gestalt an und will mit nach Hause genommen werden – wird integriert.

Der Lohn besteht in der Zunahme an Lebensenergie, Einsicht in die Lebenszusammenhänge und zur Daseinsbejahung.

Mit neuer Kraft überschreitet der Held die Waldgrenze zurück zur Zivilisation und den Menschen.

Er steht vor einem Neuanfang seines Lebens … und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

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Literatur

  • e&l internationale Zeitschrift für handlungsorientiertes Lernen 6/2004
  • Gertrud Ennulat »Der Wald im Märchen«
  • Helga Volkmann »Mensch und Baum in Symbolik und Mythos«
  • Märchenforum Herbst 2011, 51. Ausgabe
  • Felix v. Bonin »Schamanismus und Märchen«

Aktualisiert: 3.11.2016 10:53

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